Joseph Joachim war in der zweiten Hälfte seines Lebens, und des vorigen Jahrhunderts, ein Solothurner Heimatschriftsteller von mehr als nationalem Ruhm. Heute lebt er, was sich allerdings bald ändern könnte, eher in Verlagsgesprächen als im Geiste williger Leser. Es sind jetzt 150 Jahre her, dass Klein-Joseph «als letztes von zehn Kindern im Wäschekorb der Bauernfamilie des Johann und der Annemarie Joachim-Pfister in Kestenholz» lag, und 80 Jahre sind es her, seit er an einer Lungenentzündung ebendort starb. Gerade im rechten Augenblick legen im Verlag Aare, Solothurn, Elisabeth Pfluger und Felix Furrer eine neue Ausgabe mit ausgewählten Erzählungen vor, enthaltend unter anderem die «Lonny», einen Roman, der einmal Leser nicht nur am Jurasüdfuss einträchtig-andächtig in Bewunderung und Atem hielt.
Eines muss man schon klar sehen: Mit den Texten der zahllosen deutschsprachigen Autoren der Gegenwart (Josef Winkler, Franz Boni, Thomas Hürlimann, Marcel Konrad wären zu nennen), die seit gut einem Jahrzehnt auf den mythischen Böden des Hinterwalds Stoffe ihrer eigenen und fremden Vergangenheit aufbereiten, haben die Erzählungen Joachims wenig gemein. Man muss seine Dorfgeschichten mit Gotthelfs epischen Gemälden aus dem Bauernalltag im Emmental (beziehungsweise Gäu) zusammen sehen, um die revolutionären Impulse zu begreifen, die dem «Balsthaler Boten», als dessen Korrespondent und Redaktor Joachim tätig war, zu einer unverhofften Auflagesteigerung verhalfen.
Nach seinem Tod war Joachim - und sein schriftstellerisches Werk - bald einmal vergessen. Ganz allgemein besteht das Paradox darin, dass Heimatliteratur der theoretischen Diskussion der siebziger Jahre zwar als Typus des halbherzigen deutschen Realismus gegenwärtig war und auch die soziale Funktion der Dorfgeschichte bis auf die Knochen analysiert wurde, nur eben gelesen, geschweige denn ins öffentliche Gespräch gebracht als Erzähler in ihrer je besonderen Individualität hat sie kaum einer. Das soll mit der Neuausgabe von «Lonny und ausgewählte Erzählungen» wenigstens im Fall Joachim anders werden, wenngleich man sich fragen muss, ob es denn stets eines Jubiläums bedarf, bis eines Autors Werk Wiederauferstehung feiert.
Ein Meister?
Die Herausgeber der neuen Edition (die mit zeitgenössischen Illustrationen von Cäsar Spiegel ausgestattet ist) haben sich entschieden, des Guten lieber zu viel als zu wenig zu tun. Im Klappentext wird einerseits darauf hingewiesen, dass die Titelgeschichte «Lonny» überaus reiche ethnographische Informationen aus dem vergangenen Jahrhundert enthält und «mit grosser Feinfühligkeit die unversöhnliche Welt des Bauern- und Bürgertums sowie der Jenischen» schildert. Das ist nicht falsch. Anderseits schrecken die Editoren nicht zurück, «Lonny» als «Meisterwerk», als «eine zu Herzen gehende, aber niemals sentimentale Liebesgeschichte» anzupreisen. Auch das ist nicht falsch, aber verbale Schaumschlägerei, die irreführt. Die erste Aussage ist berechtigt, die zweite weniger, denn der populäre Kitsch des vorigen Jahrhunderts - ja, auch «Lonny» ist davon nicht frei! - sträubt sich in manchen Teilen dem heutigen Lesevergnügen und mithin dem Begriff «Meisterwerk». Leider wird auch schlechte Literatur, wie ein Emmentaler Käse, nicht besser, wenn er lange liegt. Zurückhaltung im Umgang mit grossen Wörtern ist angezeigt.
Romeo und Julia im Dorf
Mit «Lonny» erzählt uns Joachim eine weitere Variante jener Liebesgeschichte, die zahllose Autoren der Weltliteratur vor ihm beflügelt hat und sich kurz umschreiben lässt als eine Art Romeo und Julia im Dorf. Da ist auf der einen Seite Lonny, das Kind einer «Haudererfamilie», die mit dem Wandel der Jahreszeiten in der Nähe des «Zackenhofes» ob Krotzingen Station macht. Und da ist Fried, der tugendhafte und ehrbare Zackenbauer-Sohn. Zwischen ihm und ihr knüpfen sich von Begegnung zu Begegnung zartere Liebesbande. Zueinander finden können sie nur unter Bewältigung widrigster familiärer und standes-unterschiedlich bedingter Hindernisse, nach deren Räumung dann auch die Hochzeitsglocken läuten. Als nach einer Reihe Irrungen und Wirrungen der Ehealltag und die Spannung an der Lektüre einzubrechen droht, leitet Joachim Schlimmes in die Wege: Fried ertrinkt, bei einem Rettungsversuch zweier Knaben, unter der brechenden Eisdecke. Lonny sieht sich als junge Witwe auf dem Zackenhof menschenunwürdiger Schikaniererei ausgesetzt, sie hält das nicht aus, kehrt zu den «Fahrenden», ihrer Sippschaft, zurück, gebiert um die Weihnachtszeit in einem Stall im luzernischen Gersau einen Sohn, sieht sich auf amtlichen Erlass (alle Jenischen werden über Nacht einer Gemeinde zugeordnet) nach Krotzingen zurückzitiert, hinterlässt auf dem Zackenhof ihren Erstgeborenen und setzt ihrem Leben mit dem Wassertod ein Ende just an jener Stelle, wo Fried einst umgekommen.
Humoriger Holzschnitzer
Das ist kurz erzählt, offenbart also nichts über die Länge, mit welchen erzählerischen Glanz- und Tiefstleistungen der Stoff letztlich bewältigt wird. Gewiss, Joachim ist ein vortrefflicher Beobachter menschlicher Eigenheiten und ein ebensolcher Figurenzeichner. Immer wieder gelingt es ihm, in wenigen Worten holzschnitzhaft einen Menschen oder eine Situation zu charakterisieren, ohne es dabei an bodenständigen Vergleichen oder derbem Humor mangeln zu lassen. Wie zum Beispiel Lonnys Vater, der nur «an sein gefrässig’ Maul, an die eigene träge Haut, an seine Pulle» denkt, bei der «Missheirat» seiner Tochter in die Kirche eintritt «als käme ein Fuder Heu dahergewackelt, so dass einen wundert, wie er nur mit heiler Haut den steinernen Torbogen hat passieren können». Oder mit welch schalkhaftem Augenzwinkern Joachim auf einer «Haudererhochzeit» das nachlassende Hörvermögen von «Patriarch Böhme» nachzeichnet, «der als kaiserlicher Husar noch die Schlachten in Italien und bei Zürich mitgemacht»: «Und nachdem alt und jung, Männlein und Weiblein um die Drei einen weiten ehrfurchtsvollen Kreis geschlossen, begann der Greis mit zitternder Stimme: <Also seid ihr, Barthle Kost, Jörgens Klein genannt, und Else Zinggeler, des Josten Tochter, willens und bereit, miteinander den Ring (Ehe) einzugehen für Zeit und Ewigkeit?... Wie, ihr antwortet nicht? <Sie haben Ja gesagt, alle beide, Vater Böhme!> riefen mehrere Stimmen zugleich. <Gut, so reicht euch die Hände! ...>»
Niveaugefälle
Schöpfungen dieser Art, und sie wären in beispielloser Zahl anzuführen, sind zu Joachims literarischen Sternstunden zu zählen. Was ihn, leider, in keiner Weise gehindert hat, in ein und demselben Werk Mediocres und Missratenes zu produzieren. Als abschreckendes Beispiel und zur Verdeutlichung des Niveaugefälles hier nur der Schluss des Romans. Lonny hat soeben auf dem Zackenhof ihr Söhnchen deponiert und sich klammheimlich davongestohlen. - Unten am Seegestade hat sich der «Fischerköbel» zu nächtlicher Stunde am Felchenfang zu schaffen gemacht, als er «leichte, hastende, fliegende Schritte» vernahm, und plötzlich eine Stimme aus weiblichem Mund die Stille zerreisst: «Fried, ich komme.» - Plumps, da war Lonny im Wasser. «Weissliche leuchtende Kreise schlugen leise plätschernd an die Planken des Kahnes, schwächer und schwächer. Dann wurde es auf einmal still.» So weit, so schlecht. Aber ein Übel kommt selten allein; und Joachim fährt in seinem Roman fort: «Der <Fischerköbel> hatte vor Schrecken das Netz mit den darin zappelnden Fischen fahren lassen, vor Schrecken sprang er aus dem Nachen, lief eiligst auf und davon.» Dieser Nachtrag wäre noch erträglich gewesen, aber mit dem letzten Satz des Romans ist Joachim von allen guten Geistern verlassen und schiesst den Vogel vollends ab: «Vom Himmel aber fuhr ein Stern sprühend hernieder in den See - wollte er den beiden jungen, toten Gatten leuchten zur ewigen, unzertrennlichen, seligen Vereinigung?» Mit Verlaub, das ist Mumpitz, purer Kitsch, heilsgeschichtlich angehauchter Puderzucker, einzig und allein darauf hin angelegt, dem Leser die Tränen in die Augen zu treiben.
In seinen zahlreichen biblischen Evokationen, die bis zur Stilisierung der «heiligen Familie» reichen, erweist sich Joachim als humorvoller Tadler von Bosheiten, Intoleranz und unchristlichem Nächstenhass, was seiner Ansicht nach letzten Endes alles nur zu Katastrophen führt. «Die Reichen, die Reichen! Sie haben immer und überall den Vorzug! Sie haben sich auch die Religion auf den Leib schneidern lassen aus Seide, Samt und Geschmeide», lässt sich Lonele von der alten Zigeunerin belehren und bekehren. Joachim in der Gestalt eines Predigers in der Narrenkappe, der lieber einmal ins Fettnäpfchen tritt als auf eine gar garstige Episode verzichtet: «Und als man das Ende des langgestreckten Dorfes im Rücken hatte... liess Graz plötzlich die Wagendeichsel fahren, versetzte dem nebenher stolpernden Diener der Ortspolizei einen solch’ wuchtigen Faustschlag auf den steifen abgetragenen Wollhut, dass er ihm über die Augen, ja über Nasen und Ohren hinabfuhr; dann ergriff er das Männchen bei Schopf und Lenden und hob es mit ausgestreckten Armen hinauf in das überhängende Geäst des Weidenbaumes...»
Der Vernarrtheit ins Detail ist es denn wohl auch zuzuschreiben, dass Joachim eher ein mässiger Jongleur und Arrangeur ist, was die Romankomposition betrifft. Ohne Substanzverlust kann man nahezu aufs Geratewohl Passagen streichen; man kann beim sechsten Kapitel zu lesen beginnen, ohne viel verpasst zu haben. Es sei denn, der Leser interessiert sich, mit welcher Wildheit die Jenischen es im letzten Jahrhundert beim Emmenspitz in Luterbach getrieben haben, wie der Bauer mit dem Bürger sprach, wie laut’s im Stadtrat zuging. Aber wer auf ethnographische Informationen aus ist, wäre mit «Die Geschichten der Schulbase» oder «Die Erinnerungen eines Nachtwächters» ungleich besser beraten. Diese allerdings haben im hier erwähnten Band keine Aufnahme gefunden.
Warum so still?
«Warum ist es um ihn so still geworden»? fragt sich Max Studer-Haller, der Verfasser einer Joachim-Erinnerungschrift, die auch in die April-Nummer der «Jurablätter» Aufnahme gefunden hat. «Warum konnten seine Werke in unserer Gegenwart noch keine Wurzeln fassen»? fragt er weiter und wundert sich darüber, weshalb Joachims Schaffen in den Schulstuben zu wenig oder zum Teil überhaupt nie erwähnt worden ist. Gewiss mag Joachim zeitlebens im Schatten seines älteren Zeitgenossen Jeremias Gotthelf gestanden haben. Aber das ist in Wirklichkeit doch alles ein wenig komplizierter, vor allem dann, wenn man den Einbezug des gesamten Kommunikationsprozesses nicht ignorieren will, innerhalb dessen die Texte Joachims sowohl gemacht als auch gelesen wurden, also die sozialen, ökonomischen, technischen und physischen Aspekte von Produktion, Distribution und Rezeption.
In Kestenholz, Joachims Heimatort, wird jedenfalls - so hört und sieht man - dokumentiert und analysiert, eine Theateraufführung seiner «Lonny» ist in Vorbereitung, ebenso eine Gesamtausgabe seines Werkes in Zusammenarbeit mit der Universität Zürich. Die Rezessionsgeschichte Joachims ist noch nicht zu Ende. Und wir alle sind es, die sie jetzt, den neuen Band aus der Optik des ausgehenden 20. Jahrhunderts - sinnfällig, aber nicht kniefällig - lesend, in die Zukunft fortbilden.
Urs W. Scheidegger
Joachim, Joseph: Lonny und ausgewählte Erzählungen Solothurn, Verlag AARE, 1984, 1. Auflage, kartoniert, gebunden; mit farbig illustriertem Schutzumschlag, 458 Seiten mit einem Portrait und Zeichnungen von Cäsar Spiegel. Gedenkausgabe zum 150. Geburtstag, herausgegeben von Elisabeth Pfluger und Felix Furrer; enthält folgende Erzählungen: «Lonny», «Der Gunzger Hans», «Zwei Bauern von Glyms», «Der Franzoseneinfall», «Der Granitzler», «D' Mueter», «Träumereien des Altschulmeisters» sowie Leben und Werk, Urteile von Zeitgenossen, Nekrologe und ein Werkverzeichnis.
Artikel vom 14. April 1984 in der Solothurner Zeitung/Berner Rundschau,Langenthaler Tagblatt