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Der Oltner Poet Otto Wirz und sein Roman «Prophet Müller-zwo»: Eine belletristische Nummer eins

Verfasst von Urs Scheidegger |

Er war Arbeitskollege von Albert Einstein im Patentamt in Bern, kannte James Joyce und Robert Musil, betrieb als Schweizer Offizier der Artillerie ballistische Studien, kannte ebenfalls Hermann Hesse persönlich, dessen «Peter Camenzind» ihm die Augen für Literatur öffnete, und er wiederum konnte von jenem Lob und Bewunderung für seine literarische Tätigkeit einstreichen.

Die Rede ist von Otto Wirz, der uns mit seinem Roman «Prophet Müller-zwo» ein Schlüsselwerk des schweizerischen literarischen Expressionismus hinterlassen hat. Erstmals nach einem halben Jahrhundert ist Wirz' Roman, bereichert durch eine kenntnisreiche Einführung des Luzerner Germanisten Fritz Schaub, in einem sorgfältig überprüften Neudruck in der von Charles Linsmayer bei Ex-Libris herausgegebenen Reihe «Frühling der Gegenwart» wieder zugänglich.

In Olten geboren
Otto Wirz kam am 3. November 1877 in Olten zur Welt, in einer Stadt, von der er allerdings keine hohe Meinung hatte, wie seinem Schreiben, datiert vom 23. Oktober 1923, an Adolf Spemann zu entnehmen ist: «Olten ist die verruchte Stadt von 12000 Seelen, allwo ich nicht unmittelbar auf die Geburt gestorben bin und wo ich deswegen die ersten zwölf Jahre meines Lebens verbrachte.» Nun, er besuchte fünf Jahre das Gymnasium von Donaueschingen, kehrte vorübergehend mit seinen Eltern in die Schweiz zurück, um 1904 dann erneut in Deutschland, an der Hochschule Darmstadt, sein Studium in Elektrotechnik abzuschliessen. Zehn Jahre später, wieder in die Schweiz zurückgekehrt, leistete er Aktivdienst und marschierte als Batteriechef mit an die Grenze.
1917 wurde Hauptmann Otto Wirz wegen seiner schwächlichen Konstitution für dienstuntauglich erklärt. Das war das Ende seiner militärischen Laufbahn, und der Anfang einer literarischen. Genau genommen wurde der Grundstein dafür schon früher gesetzt, als der äussere Lebenslauf es nahelegt. Da war nämlich zu seiner Gymnasialzeit jener Donaueschinger Schuldirektor, der ihm «zum erstenmal den Blick für die Welt aufgetan» und ihn «nachdenklich gemacht» hat, wie Otto Wirz im Lebenslauf festhält. Im Klartext: Trotz des
heilsverkündenden Fortschrittsglaubens seiner Zeit muss der angehende Student der Elektrotechnik zu ahnen begonnen haben, dass es zwischen Himmel und Erde mehr gibt, als der Wissenschaft und Technik vordergründige Gelehrsamkeit erträumen lässt.

Raubbau an der Gesundheit
Nach seiner Konstrukteurentätigkeit bei Escher Wyss und Co. in Zürich wurde Otto Wirz 1908 technischer Experte I. Klasse am Eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum in Bern. Dort begann er auch mit der Arbeit an seinem ersten Roman «Gewalten eines Toren», und zwar in einer Weise, die als Raubbau an seiner Gesundheit ausgelegt werden muss: tagsüber bearbeitete er Beigen von Patentakten, des nachts schrieb er Belletristik. 1924 musste er sich wegen nervöser Herzstörungen in ein Sanatorium bei Riehen begeben; eine Begebenheit, die sich auch in seinem dritten, erstmals 1933 erschienenen und - Wirz und dem Ex- Libris-Verlag sei's gedankt - nun nach 50 Jahren zum zweitenmal aufgelegten Roman «Prophet Müller-zwo» autobiographisch niedergeschlagen hat.

«Midlife-Crisis»
Das Verhältnis des ersten Romans zum dritten beschreibt Fritz Schaub so: «Erkennen wir in Hans Calonder den jungen, aufbrechenden Wahrheitssucher Otto Wirz, den Studenten der Maschinentechnik, der gegen seine Umwelt rebelliert und ihr eine ganz andere Werthierarchie entgegenschleudert, so steht hinter August Müller, dem Protagonisten des dritten Romans, der Otto Wirz der mittleren Jahre, der verheiratete Schriftsteller, der, wie man heute sagen würde, eine «Midlife-Crisis» durchmacht. Die intime Beziehung zu einer viel jüngeren Frau, die Behandlung eines Nervenleidens in einer Klinik, die militärischen Erfahrungen, das Erlebnis des Ersten Weltkrieges - all das finden wir in mehr oder minder veränderter Form in der Lebenschronik des Schriftstellers.»
Der Inhalt von «Prophet Müller-zwo« lässt sich knapp wie folgt wiedergeben: Nachts, auf einem einsamen Bahnhof, erzählt August Müller einem Unbekannten sein Schicksal, das eng mit dem Ersten Weltkrieg und jener Ratlosigkeit verknüpft ist, in welcher dieser die Menschheit zurückliess. Müller war im Krieg Kampfgas-Chemiker, hatte den Druck dieser letztlich menschenverachtenden Tätigkeit aber nicht unbeschadet ausgehalten und war schliesslich nach dem Krieg in einer Nervenklinik gelandet. Dort rang er, wie er seinem Gegenüber in expressiven Bildern berichtet, jahrelang um den Verstand und sah sich schliesslich in aufwühlenden Visionen mit dem Göttlichen konfrontiert, für das er einer ungläubigen Welt als eine Art «Prophet» Zeugnis ablegen solle.

Drei Ebenen
Ausgestattet mit einer raffinierten Schachtelarchitektur, spielt der Roman in drei Ebenen: erstens in der realen Rahmenhandlung des nächtlichen Dialogs, als er, der August Müller, bei «einem längeren Aufenthalt zwischen zwei Zügen auf einer Durchgangsstation» mit einem Fremden ins Gespräch kommt; zweitens im Erzählinhalt der medizinischen Behandlung des Nervenkranken und der sich im Zuge des Heilungsprozesses anbahnenden Liebesgeschichte mit der Krankenschwester Helene Seiffert und drittens im eigentlichen Inhalt des Romans: in August Müllers Unterbewusstsein, durch das er «einen ganzen inneren Kosmos» durchmisst und «in die tiefsten Schächte der Seele» vordringt, «aus denen längst verloren geglaubte, in Tat und Wahrheit aber nur verschüttete heile Kräfte wieder aufbrechen.» (Schaub)
Geradezu modern mutet Wirz, dessen autobiographische Literatentätigkeit (oder literarische Autobiographie) sich immer wieder mit seinen Lebensstationen und dem Weltgeschehen kreuzen, dann an, wenn er etwa die Eingriffe der Technokraten in die Natur geisselt, wenn er die Zerstörung der Umwelt beklagt, wenn er davor warnt, das ökonomische und biologische Gleichgewicht aus den Fugen geraten zu lassen, wenn er mentale, unterbewusste Kräfte gegen die rational-utilitaristischen verteidigt, worüber er in seinen Romanen prophetisch-selbstredend Zeugnis abgelegt hat und selbst nach 50 Jahren abzulegen imstande ist.
(Die Buchreihe «Frühling der Gegenwart» kann bei Ex-Libris abonniert werden.)

Publikation in Solothurner Zeitung/Grenchner Tagblatt/Langenthaler Tagblatt/Berner Rundschau

Otto Wirz und sein Roman «Prophet Müller-zwo»
Otto Wirz und sein Roman «Prophet Müller-zwo»

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