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Eine Fuhre mit Knall- und Special Effects: «Mythenspiel» von Herbert Meier

Verfasst von Urs Scheidegger |

Am Samstagabend ging vor den Schwyzer Hausbergen das nach ihnen benannte «Mythenspiel» von Herbert Meier in Premiere – eine eher wirre Kolportagegeschichte mit pathetischem Impetus, sehr monströs, sehr symbolbefrachtet, recht mythisch mit ein bisschen akademisch verbrämter Zeitkritik.

Zur rechten Hand die Skyline von Schwyz, zur linken die Mythen, hinten überragt «Adalbert Österreich», ein 35 Meter hoher Kopf aus Eisengitter die gigantische Bühnenkonstruktion und vorne wird im Oval so gross wie ein Fussballfeld Theater gespielt – «Mythenspiel» vom in Zürich lebenden Solothurner Autor Herbert Meier, eingerichtet vom Österreicher Hans Hoffer mit sphärischen Klängen vom Jazz-Klassik-Impressario Daniel Schnyder aus 1291-Watt-Boxen. Am Schluss stehen 200 erschöpfte Akteure auf der Bühne, auf der Tribüne verhaltener Applaus von 4392 mehr oder weniger ratlosen Zuschauern und im Block rechts, Sektor B, Reihe 4, Sitzplatz 10 sitzt einer und schüttelt den Kopf. Weniger deswegen, weil ihm ins Bewusstsein dringt, dass während der gut zwei Stunden jede einzelne Minute, die er hier verbringen durfte, um die 3500 Fr. teuer ist, sondern eher deswegen, weil er die sattsam bekannte Antwort auf die Frage, weshalb die Saurier wohl ausgestorben sind, einmal mehr bestätigt findet: Grösse macht anfällig.
Die Mythen zwar werden womöglich eine allfällige 800-Jahr-Feier überleben. Ähnliches vom 700-Jahr-«Mythenspiel» zu behaupten, wäre vermessen. Weshalb?
Es gibt Stücke, die Leben vom Monolog, und das Fundament des Monologs ist die Verinnerlichung. Es gibt Stücke, die Leben vom Dialog, und die Grundfigur des Dialogs ist das Duell. Es gibt Stücke, die leben von Massenszenen, und das Prinzip der Masse ist die Intrige. Es gibt Stücke, die leben vom Optischen, und die Grundlage des Optischen ist die Ausstattung.
Das «offizielle Schauspiel zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft» ist eine einzige monströse Ausstattung, die den mono- und dialogisierenden Hauptdarsteller Teiler mit allerhand Material und Motiven zuschüttet. Ob so viel optischen und akustischen Reizen hat er nicht den Hauch einer Chance zur Verinnerlichung, vielmehr ist er eine theatralische Kopfgeburt, die reichlich Wirres im Hirn und den Arm in der Schlinge hat.
Protagonist Teiler (Bernhard Schir), ein Nobody unserer Tage, verliert nach einem Autounfall das Gedächtnis und verstrickt sich auf der Suche zu seinem Bewusstsein in einem Labyrinth von Mythen. Er versteht sich als einer, der – sich auf der Suche nach seiner verschütteten Identität durch das kollektive Gedächtnis der Schweiz tastend – nichts begriffen hat von der «Verwandtschaft allen Lebens in dir und ausser dir», weshalb Vinz (Reiner Schöne), der Spielführer und Wissende, mit ihm hineinsteigt in Höhlen und Felskammern, um «Abgesunkenes, Vergessenes» zutage zu fördern. Auf einer Nachtfahrt durch die Welt seiner Herkunft stösst Teiler auf mancherlei Spukgestalten, Mythen und Figuren aus Sage und Geschichte der Schweiz.
Entstanden ist ein Multimediaspektakel, in dem es um Baumsterben, Mann/Frau, Transitverkehr, Geldgier, Europa, Dritte Welt, Verfassungsreform, Stegkatzen und Scheibenhunde geht, und in dem unter anderen Henri Dunant, Tell (gleich in dreifacher Ausführung), Erasmus und Paracelsus, Pestalozzi aufmarschieren – und ein gewisser Ignaz Paul Vital Troxler, seines Zeichens Philosoph aus Beromünster, der den Staatsgründern von 1848 nicht traut.
Selbst bei Paracelsus oder Pestalozzi, beide mit ironisierter Mechanik vorgeführt, lässt Regisseur Hoffer erkennen, was für Schwierigkeiten ihm die gehäkelte Rhetorik und das
aufgesetzte Pathos Meierscher Prägung bereitet. Zum Beispiel dann, wenn das Symbol des Baumes nicht nur auf Mann und Frau, sondern auch noch auf den Staat angewendet werden: «Denn die Frau ist wie der Baum, der seine Früchte trägt, und der Mann ist wie die Frucht, die der Baum trägt», klärt Paracelsus Teiler auf. Und: «Oh, auch der Staat ist einem Baum vergleichbar. Ein Wald von Bäumen, und ist zugleich der Gärtner. Ein guter Gärtner hindert nichts und hemmt nichts, was sich entfalten und gestalten will. Er liebt den Geist des Baumes und gibt ihm Wasser», träumt Pestalozzi.
So querbeet, wie‘s mit Material und Motiv durch die Schweizer Geschichte geht, so verquer macht Meier stilistische Anleihen durch die halbe Theatergeschichte: ein bisschen Aristophanes, ein bisschen Shakespeare; Molière hier, Pirandello da, Ibsen dort; musicalähnliche Auftritte fehlen ebenso wenig wie Balletteinlagen, dazu viel Körpersprache bis hin zur Akrobatik. Spätestens hier schwappt die Hoffersche Bilderwelt mit brachialer Gewalt in die Meierschen Dialoge über, eine Bilderwelt, die einer gewissen Komik nicht entbehrt. Eher enervierend als erheiternd wirkt der Umstand, dass alle paarmal Feuerzungen aus dem Bühnenboden schiessen oder Laserstrahlen Ringe oder Runen beziehungsweise die Wörter «Freiheit» oder «Fini» an die Mythen kritzeln. Da wird doch zu sehr nach dem Motto gespielt: Gag komm raus, du bist umzingelt! «Mythenspiel» – spielerisch mag das ja für manchen Geschmack noch sein, nicht unbedingt aber mythisch. Dennoch gibt es der Aufführung Komik, Freiheit und Grösse. Ihre Einfachheit ist da angesiedelt, wo das Leben ins Elementare zurückfindet – auf der Suche nach den sanitären Anlagen zum Beispiel.
Selten ging bei einer Premiere die Zeit so schleppend vorbei, nie hat mich eine Aufführung so überreizt in die Nacht entlassen wie das «Mythenspiel»: Optisch, akustisch und im Wechsel von beidem ein Feuerwerk – nach dem «fil rouge» hält man noch heute Ausschau. Oder ist es doch der Laserstrahl, der den Hauptdarsteller alle Naslang begleitet?
Was noch? Ach ja. Was da zurzeit auf dem Ballenberg mit einem 450 000-Fr.-Budget rund um den Keller-Stoff von «Romeo und Julia auf dem Dorfe» bewerkstelligt wird, ist zwar auch nicht über alle Zweifel erhaben. Doch ist es entschieden mehr «Landschaftstheater mit Musik» als die 10-Mio-Fr-Fuhre am Fusse der Mythen mit ihrer auf die Dauer enervierenden Knall- und Special Effects.

Erschienen in Solothurner Zeitung/Grenchner Tagblatt/Langenthaler Tagblatt/Berner Rundschau vom 22. Juli 1991

Herbert Meier in der NB
 

16 000 am «Mythenspiel»
us. Über 16 000 Personen haben sich bis zum 12. August das «Mythenspiel» in Schwyz angesehen. Diese Zahl verteilt sich auf fünf Vorstellungen. Das Organisationskomitee des offiziellen Festspiels zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft wertet die Zwischenbilanz als positiv. «Die professionellen Kritiker haben mit ihren pointierten Premieren-Medienverrissen viele Leute neugierig auf das Festspiel gemacht», war von der Informationsstelle zu erfahren.
Im Vorverkauf konnten bisher rund 32300 Mythenspiel-Plätze verkauft werden. Bislang mussten vier Vorstellungen wegen schlechten Wetters abgesagt werden.
Das Spiel wird noch bis zum 7. September 1991, jeweils jeden Mittwoch- bis Samstagabend um 21 Uhr über die Open-Air-Bühne gehen.


Erschienen in Solothurner Zeitung/Grenchner Tagblatt/Langenthaler Tagblatt/Berner Rundschau vom 16. August 1991

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