Als die Zürcher Protestbewegung 1980 mit dem Slogan «Nieder mit den Alpen. Freie Sicht aufs Mittelmeer!» für eine Schweizer Horizonterweiterung demonstrierte, waren sie mit ihrer Gebirgsantipathie nicht die ersten. «Vor uns Schnee, unter uns Schnee, Schnee um uns herum, und unten keine Erde…» nölte Nikolaj Gogol im Herbst 1836 mit Blick auf den Genfersee. Auch der junge Tolstoj wunderte sich 1857 auf der Rigi über die anschwellende Bergbegeisterung und notierte wenig schmeichelhaft in sein Tagebuch: «Dieselbe blödsinnige Aussicht auf die Natur und die Leute.»
Während die Bergkritik der Schweizer Jugendlichen um 1980 politisch motiviert war, geht es bei Gogol, Tolstoj und noch früher bei Hegel eher um die Ästhetisierung oder persönliche Befindlichkeiten im Gebirge. So auch bei Hegel.
Anlass zu diesen Überlegungen war, dass ich – der Erinnerungskultur sei Dank – wieder mal etwas über Hegel gelesen habe. Da staunte der Fachmann und der Laie fands schade, dass im Verlaufe des Textes nicht eingelöst wurde, was im Untertitel demonstrativ mit einem kontrastierenden Begriffspaar angekündigt wurde: Biedermeier und Karl Marx. Leider war dazu im Fliesstext nichts weiter in Erfahrung zu bringen. Stellte sich die Frage, wie den Meisterdenker des deutschen Idealismus präsentieren, der durchs humanistische Bildungsgut europäischer Prägung zum Giganten der Philosophiegeschichte hochgejazzt wurde. Nun ja, eine mittelländische Tageszeitung könnte sich an ortsgebundenen Signalen orientieren. Wie sich Hegel im Sommer 1796 – Rousseaux' Gedankengut im Kopf – von Bern über Thun, Interlaken, Grindelwald und die Scheidegg weiter nach Meiringen Richtung Wallis aufmachte und je länger und höher die Wege wurden, umso tiefer die Stimmung sank. «… nur verkrüppeltes Tannengesträuch, Moos, elendes oder kein Gras», ist in seinem Reisetagebuch von 1796 nachzulesen.
Auch hatte der Apologet der Freiheit – die Ideale der Franz. Revolution im Hinterkopf – mit der Gesinnung seiner Berner Patrizierfamiie, in der er als Privatlehrer seines Amtes waltete, wenig am Hut. Später war die redaktionelle Tätigkeit bei der Bamberger Zeitung für Hegel, wie so häufig in Geldnot, auch nicht das höchste aller Gefühle, beklagte er sich doch über Meldungen, die er zu redigieren hatte. Zum Beispiel, «dass der Prinz N. N. heute hier durchpassiert sei» oder «dass seine Majestät auf der Schweinsjagd gewesen ist».
Die 25 Semester an der Uni Berlin dann waren definitiv das Umfeld, in dem er ungestört seine hochfliegenden Gedanken um den Weltgeist, der wie der Zeitgeist eben weht, wo und wie er will, zur Entfaltung bringen konnte. Ungestört? Es breitete sich alsbald eine Pandemie aus, Hegel starb in Zeiten der Cholera, vermutlich an einem Magenleiden. Was bleibt, ist neben den zahllosen (oft aus dem Zusammenhang gerissenen oder untergejubelten) Zitaten die Empfehlung eines vernünftigen Freiheitsbegriffes, der nicht auf die Willkür individueller Rechthaberei pocht, sondern auch Einschränkungen hinsichtlich einer funktionierenden Gesellschaft akzeptiert. Also doch: Nehmt endlich Vernunft an! Oder bewahrt zumindest Anstand durch Abstand. Und das nicht nur zu Zeiten von Corona.
PS: Hegel hat schon immer polarisiert. Bekannt ist Schopenhauers Diktum «des immer desorganisierenden Philosophasters». Kierkegaard warf Hegel vor, «einen hochgewölbten Palast zu entwerfen und selbst in einer Hundehütte zu wohnen».
«Es ist der grosse Hegel, der grösste Philosoph, den Deutschland seit Leibniz erzeugt hat», jubelte Heinrich Heine. Derselbe Heine besuchte als Jus-Student Anfang der 1820er in Berlin Hegels Vorlesungen und liess die ironische Bemerkung fallen: «Ich sah manchmal, wie er sich ängstlich umschaute, aus Furcht, man verstände ihn.»