Es muss in den mittleren 1950er Jahren gewesen sein, als an einem Wintertag in Derendingen Theaterabend angesagt war. Eine gar nicht mehr so junge Frau mit rotem Käppchen war selbdritt auf der Bühne zugange und wurde aus unerklärlichen Gründen samt Grossmutter vom Wolf, in seinem zotteligen Outfit eher an einen Bär gemahend, gefressen. Einfach so. Zum Glück kam ein Jäger des Weges, schlitzte Wolfes Wampe auf, holte Rotkäppchen und Grosi aus dem Verdauungstrakt und befüllte den Hohlraum mit Steinen, sodass dem Wolf – der Flucht unfähig – nichts anderes blieb, als rücklings auf den Tod zu warten. Ein fürs kindliche Gemüt durchaus überraschendes, wenn auch verstörendes Geschehen; erst viel später sollte sich mir der Sinn von Isegrims seltsamer Verschlingattacke mit Not-OP erschliessen. Habicht, habacht, der Wolf geht um! Was da über die Bühne ging, war quasi Rotkäppchen Light mit Happyend, nach Grimmscher Lesart. Was Wunder, gilt noch heute «Rotkäppchen» (auch Rotkäppchen und der (böse) Wolf, im österreichischen Burgenland und Ungarn auch Piroschka, von ungarisch piros: rot) als das am häufigsten interpretierte Märchen mit zahllosen Parodien aller Machart. Unter anderem «Radkäpchen und der böse Golf»
.Die Hardcore-Versionen sind bedeutend älter, die beiden ersten literarischen Rotkäppchen-Auslegungen stammen von Charles Perrault aus den Jahren 1695 (Perrault’s Tales of the Mother Goose, The Dedication Manuscript of 1695, Hrsg. Jacques Barchilon, 2 Bände, New York 1956, The Pierpont Morgan Library) und 1697 (Contes de Perrault, Paris 1697, Faksimile-Druck, Hrsg. Jacques Barchilon, Genf 1980). Weit und breit keine Rettung – Rotkäppchen und Grosi verenden im Verdauungtrakt des Wolfes.
Jona und der Wal – ein wirkmächtiges Narrativ für die Christenheit
Ein Verschlingungsprozess der etwas anderen Art liegt vor, wenn der Magen mit Verschluckten nicht nach hinten, sondern über das Maul entleert wird. Eine diesbezüglich wirkmächtigen Geschichte ist Jonas Verschlingung und Ausspeiung durch den grossen Fisch – ein für die Christenheit bedeutungsvolles Narrativ, zumal die Verkostung von Jona durch einen Wal mit anschliessendem Auswurf aufs Festland hervorrandend als metaphorisches Symbol bzw. symbolische Metapher für den Tod und die Auferstehung Jesu taugt
Iwan Matwejewitsch und das Krokodil – eine kafkaeske Lage mit offenem Ausgang
Und nun zu Iwan Matwejewitsch. Es geschah am 13. Januar 1865 um halb ein Uhr mittags, als Jelena Jwanowna den Wunsch äusserte, «das Krokodil zu sehen, das in der Passage gegen Eintrittsgeld gezeigt wurde». Schnapp! Iwan Matwejewitsch verschwandet im Schlund des Riesenreptils namens «Karlchen». Dort richtete er sich behaglich ein und begann, Pläne zu schmeden, wie er den neu gewonnenen Ruhm seines neuen Heims möglichst geschäftstüchtig für sich inszenieren könne.
So beginnt Fjodor Dostojewskis satirische Erzähung «Das Krokodil» (russisch: Крокодил, Krokodil). Zum ersten Mal begegnet bin ich dem Text ziemlich genau hundert Jahre nach dessen Entstehung. Veröffentlicht wurde die sarkastisch-ironische Erzählung in der Zeitschrift Epocha, die Dostojewski gemeinsam mit seinem Bruder Michail herausgab; die erste Folge erschien im Februar 1865. Da Dostojewski bankrott war und Epocha schon im Juni eingestellt wurde, blieb die Erzählung unvollendet. Wohl auch aufgrund der Empörung, die der Text in der russischen Öffentlichkeit ausgelöst hat. Denn Dostojewski überspitzt mit dem «Krokodil» nicht nur das ökonomische Prinzip des Kapitalismus (der Mensch zählt nichts, der Profit umso mehr), sondern auch die erstarrten Gesellschaftsstrukturen mitsamt der kafkaesken Welt der russischen Administration kriegen ihr Fett ab. Wobei man sich angesichts der Lebensdaten schon fragen muss, wer da wen beeinflusst hat – Kafka Dostojewski oder doch eher umgekehrt...
Dieter Hildebrandt, selbst ein Meister der Satire, liest die Groteske von Dostojewski in der Übersetzung von E. K. Rahsin mit bissiger Ironie.