Es müssen schon damals Permutationen bzw. Transformationen mit einem gehörigen Schuss pubertärer Anwandlungen samt Begeisterung für antike Komödien im Spiel gewesen sein, als in der Innerschweiz auf rund 880 Höhenmetern ein Sprachbegriff zum Sprachriff zu mutieren sich anschickte. Zumindest ansatzweise. Es war die Zeit, als Mick Jagger auf Basis eines berühmt-berüchtigten Riffs «I can’t get no satisfaction» beklagte. Und Serge Gainsbourg zusammen mit Jane Birkin etwelchen Zeitgenossen die Schamröte – oder aber das Fremdschämen – ins Gesicht trieb. Nicht so den einstigen Pubertieren und Schriftgelehrten altgriechischer Sprache an der Stiftsschule zu Einsiedeln. Diese, durch die Lektüre von Aristophanes' Komödien quasi gefeit gegen jedwelche Art von Koprographie, betitelten schon damals das Gainsbourg/Birkinsche Gesäusel als coitus grammaphonicus – trotz oder gerade wegen des omnipräsenten Hippie-Gedöns, Flower Power und anderweitiger Ingredienzen bewusstseinswerweiternder Wirkmächte. Aber auch eine gehörige Portion Selbstkritik machte die Runde, gipfelnd in einer nachgerade existenzial-philosophischen Erkenntnis der Art: Bevor ein Bewusstsein sich erweitern kann, muss erst eines vorhanden sein…
«Wenn Vögel pfeifen und Pfeifen vögeln»
In bewusstem benediktinischen Bildungsinstitut der 1960/70er Jahre wurde unmissverständlich im Sinne des klassisch-humanistischen Bildungsfundamentes nicht nur semantisch korrekt differenziert, es kamen auch syntaktische Permutationen der speziellen Art zur Sprache, wenn Aristophanes' «Vögeln» (Ὄρνιθες) Referenz und Reverenz gleichermassen erwiesen wurde: «Wenn Vögel pfeifen und Pfeifen vögeln», wurde gelegentlich in klösterlichen Studiensälen verlautbart, «ist das wohl nicht dasselbe». Ὄρνιθες hin oder her, weitaus Deftigeres schlummerte zwischen den Buchdeckeln der «Lysistrate» oder «Ekklesiazusen», wo zahlreiche vulgär-derbe Begriffe als Stilmittel eingesetzt wurden. Sie wissen schon: πέος «Schwanz» (124; 134; 415; 928; 1012), σάθη «geiler Schwanz» (1119), κύσθος «Muschi, Möse» (1158), ἱππικώτατον «reitkundig» (677), πυγή (82) «Arsch», ἡ ψωλή «der Steife» (143; 153; 979; 1136), στύειν «einen Steifen bekommen» (214).
Und κινέιν «bewegen, rütteln» nicht vergessen, das als Metonymie für das vulgärsprachliche βινεῖν «vögeln» (934; 1092; 1180) herhalten musste. So gesehen erhält auch die Personalie Kinesias eine existenziell nachvollziehbare Bedeutung.
Übrigens: Derlei Metaphern haben keinerlei euphemistische Funktion, sondern waren bei Aristophanes Mittel der Komik. Diesbezüglich dürften auch die Passagen 21–30; 407–413; 414–419; 1162–1187 von Interesse sein, in denen die eindeutige sexuelle Konnotation als komisches Hilfsittel eingesetzt wird.
Rezeptur aus 78 Silben mit 171 Buchstaben
Als Geburtshelfer für das Sprachriff darf massgeblich ein seltsames Kochrezept aus den Ἐκκλησιάζουσαι nicht übergangen werden – eine Art Frikassee aus Fisch, Tauben und weiterem Gefieder, verdichtet zu einem Begriff von 78 Silben mit 171 Buchstaben. λοπαδοτεμαχοσελαχογαλεοκρανιολειψανοδριμυποτριμματοσιλφιοκαραβομελιτοκατακε-χυμενοκιχλεπικοσσυφοφαττοπεριστεραλεκτρυονοπτοκεφαλλιοκιγκλοπελειολαγῳοσιραιοβαφητραγανοπτερύγων. Ein Rekord, was die Wortlänge betrifft. Und es war durch Jahrhunderte das längste bekannte Wort, laut Guinness-Buch von 1990 sogar das längste Wort, das je in der Literatur verwendet wurde. Ach so, die deutsche Übersetzung von Ludwig Seeger lautet: Austernschneckenlachsmuränen-Essighonigrahmgekröse-Butterdrosselnhasenbraten-Hahnenkammfasanenkälber-Hirnfeldtaubensiruphering-Lerchentrüffeln-gefüllte Pasteten.
Hapaxlegomena hüben wie drüben
Wer so lange eine Spitzenposition belegt, ist natürlich ein Hapaxlegomenon, ein solches tritt als sunufatarungo auch im Hildebrandslied in Erscheinung. Keineswegs zum ersten Mal, Hapaxlegomena sind schon bei Homer sonder Zahl auszumachen.
Laut dem klassischen Gelehrten Clyde Pharr hat die Ilias 1097 Hapaxlegomena, die Odyssee 868. Andere Quellen sind zurückhaltender, definieren den Begriff auch anders: Demnach befinden sich in der Ilias 303 Hapaxlegomena und in der Odyssee nur 191.
noisy98 und die «Blechtrommel»
Kurz vor der Geburt des Sprach(beg)riffs schlug beim Autor dieses Textes die Stunde der Hinwendung zu Suaheli, des linguistischen Strukturalismus samt Quantitativer Linguistik und der Generativen Transformationsgrammatik. Die Überlegung bestand darin, aus einer Gemengelage der deutschen Sprache per Zufallsprinzip ein Nominalkompositum zu generieren. Heute kein Problem, damals eine Inspiration dank Erfahrungen mit «Plato und der modernen Linguistik» sowie einschlägigen Publikationen und nicht zuletzt dank Programmierung eines Morphemgenerators im Rahmen von noisy98, lauthals inspiriert durch die «Blechtrommel». Die nämlich erschien 1990 als Wortindex, herausgegeben von Franz Josef Görtz, Randall L. Jones und Alan F. Keele in der Sammlung Luchterhand, unterstützt vom Humanities Research Center der Brigham Young University in Provo/Utah (USA).