Als unumstössliches Kriterium fürs Menschsein wird gemäss menschlicher Selbsteinschätzung gerne die Intelligenz bemüht; inzwischen ist sie auch künstlich zu haben, als ob die natürliche nicht schon hinlänglich suspekt wäre. Das Erkenntnisvermögen, das Denkvermögen, das Bewusstsein, die Seele, der Intellekt oder eben die Intelligenz ist es, die das Säugetier aus der Ordnung der Primaten in ungeahnte Höhen ungebremsten Fortschritts für alle Ewigkeit vor sich hertreibt. Aber jedwelcher Optimismus bei noch so glorifizierter Kreativität menschlicher Fähigkeiten kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Homo erectus / neanderthalensis / sapiens / oekonomicus / deus oder was immer an Epitheta noch kommen mag in seiner Selbstüberschätzung – trotz repetitiver Mahnungen vor Kriegen und weiteren Übeltaten («nie wieder!») – immer wieder schlimmer Zerstörer war (und es auch bleiben wird). Kaum gab es ein paar wohlgemeinte Empfehlungen im Umgang miteinander (etwa «zehn Gebote»), schlug der eine dem andern (Bluts)verwandten den Schädel ein. Seitdem führen Blutspuren sonder Zahl auf unterworfene Konkurrenten hüben wie drüben durch Raum und Zeit. Und anders als der gesunde Menschenverstand moderner Prägung es sich für die Zukunft herbeisehnt, wird trotz Zeitalter der Aufklärung die Barbarei nicht weniger – die Gräueltaten werden allenfalls sauberer, klinisch reiner und insbesondere immer effizienter vollzogen.
Kulturvandalismus allenthalben – schlampig und nachhaltig
Kulturvandalismus ist eine besonders beliebte und entsprechend häufige Methode im Dienste selektiv kollektiver Vernichtung Andersartiger. Auffällig dabei: Sie betrifft in der Regel Gruppen – die Guten gegen die Bösen, Freunde gegen Feinde, Sieger gegen Verlierer, wobei keineswegs klar ist, wer aktuell gut oder böse, Freund oder Feind sein soll und schon gar nicht, wer letztendlich «erfolgreich» bleibt. Die vielleicht grösste Kulturvernichtung der Menschheitsgeschichte geschah mit Bibeln in der Hand, ihre Täter waren Würdeträger quer durch klerikale Hierarchien: Päpste, Bischöfe, Äbte, Mönche, Diakone, Priester, Kaplane, Vikare, Missionare. Und anders als Hitler, dessen Mordwut jüdische Zivilisation und Glaube immerhin überlebten, verrichteten die Christen quasi «erfolgreiche» Arbeit: Heute gibt es keine Tempel mehr, in denen Rituale zu Ehren Jupiters/(Ζεύς), der Venus/(Ἀφροδίτη), Aesculaps/(Ἀσκληπιός, Ἀσκλαπιός), Minervas/(Ἀθήνη) und deren weiteren Entourage praktiziert werden. Es sei denn, man zählt Winzerfeste bzw. Oktoberfeste und ihre globalen Ableger zu Kultstätten, in denen Διόνυσος und Co gehuldigt wird. Ninkasi, die «Dame, die den Mund füllt», Göttin des Biers aus dem sumerisch-assyrisch-babylonisch mesopotanischen Raum, kennt auch niemand mehr. Im Gegensatz zu Ozapftis, den Bavarischen Gott des Bieres, der spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert jeweils im Herbst weltweit fröhliche Urständ feiert.
Kunst-Zerstörer in eigener Sache
Was aber ist, wenn sich bei einem Individuum der Zerstörungsdrang nicht gegen andere, sondern gegen die eigenen Schöpfungen richtet. Bereits ab den 1960er Jahren machten Künstler aus unterschiedlichen Motiven mehr oder weniger geräuschvoll als Vernichter auf sich aufmerksam: Jean Tinguely sprengte in Nevada Wohlstandsmüll in die Luft; Roman Signer liess hunderte säuberlich aufgereihte Spielzeug-Militärhelikopter crashen; Gustav Metzger bemalte Vinylfolien mit Säure; Dieter Roth liess Früchte, Wurst oder Käse verschimmeln und verrotten… Aber keiner der selbst-zerstörerischen Künstler zelebrierte sein Tun so festlich-barock wie Bernhard Luginbühl unter anderem auf dem Marktplatz in Büren an der Aare.
Literatur-Zerstörer in eigener Sache
Kaum ein anderer Autor als Franz Kafka hat in der Weltliteratur eine vergleichbare Flut von Interpretationen ausgelöst. Vor über 40 Jahren schon war in der Solothurner Zeitung «Der Kafka-Kult kennt keine Krise» zu lesen. Inzwischen kann man mit Blick auf die Kafka-Sekundärliteratur und -Interpretationsschulen geradezu von einem «exponentiellen Wachstum des Kafkaesken» reden.
«Kafka lebte um des Schreibens willen. Er lebte nicht um des Geschriebenen willen. Das ist vielleicht das Wichtigste, was man von diesem Autor wissen muss.» So der Germanist Peter von Matt am 28.11.2009 in der NZZ. Eine andere Sicht hat der tschechische Bildhauer Jaroslav Róna (* 27. April 1957 in Prag), der für zahlreiche Statuen im öffentlichen Raum bekannt ist. So auch durch das 2003 geschaffene Franz-Kafka-Denkmal in Prag, inspiriert von der «Beschreibung eines Kampfes», einer zwischen 1903 und 1907 entstandenen Kafka-Erzählung. Róna zufolge hat Kafka «…gesucht, was hinter den Worten steckt. Das Schreiben sah er als unvollkommene Stütze, um das auszudrücken, was er mitteilen wollte. Davon zeugt auch die Tatsache, dass sich in seinem Tagebuch bis zu zehn Versionen eines Satzes finden lassen…»
Kafkas Motive für die Vernichtung seiner Werke
Was aber hat Kafka dazu bewogen, testamentarisch die Vernichtung seiner Manuskripte, Tagebücher und Briefe anzuordnen? Darüber gibt es viele Vermutungen.
Kafka wollte zweierlei sicherstellen: Zum einen sollten private Aufzeichnungen und Mitteilungen nicht in fremde Hände gelangen, zum anderen sollte die Veröffentlichung unvollendeter Werke unterbunden werden.
Diese beiden testamentarischen Verfügungen – die erste wahrscheinlich vom Herbst/Winter 1921, die zweite vom 29. November 1922 – fand Max Brod nach dem Tod des Freundes unter dessen Papieren. Brod hat sich bekanntlich nicht an diese Verfügungen gehalten. Weniger bekannt ist, dass ausgerechnet die beiden Testamente selbst die ersten Texte sind, die Brod nach Kafkas Tod aus dessen Nachlass am 17. Juli 1924 in der ‹Weltbühne› veröffentlichte.
Nächste Eskalationsstufe Rosemary Tonks
Die nächste Eskalationsstufe in der Disziplin literarischer Eigenvernichtung gehört Rosemary Tonks, die nachgerade proaktiv bei der Vernichtung ihrer Literatur Hand angelegt hat. Sie soll systematisch ihre eigenen Bücher aus Bibliotheken in ganz England ausgeliehen haben, um sie in ihrem Garten zu verbrennen. Zweifellos ein Grad der Selbstvernichtung, der sich je nach Perspektive als transzendent oder suizidal oder als Mixtur aus beidem kategorisieren lässt.
Apropos Perspektivenwechsel: Wer den Himmel im Wasser sieht, sieht die Fische auf den Bäumen – vorausgesetzt, es befinden sich Fische im Wasser, und das Wasser spiegelt Bäume (vor dem Himmel).
Nach dem Scheitern ihrer Ehe lebte Rosemary Tonks alleine, versenkte sich in taoistische Meditation, bei der sie stundenlang auf eine leere Wand starrte und die Augen nach innen drehte. An Silvester 1977 wurde sie ins Middlesex Hospital zur Notoperation an der Netzhautablösung beider Augen eingeliefert. Danach war sie völlig hilflos, konnte kaum sehen, konnte nicht kochen und magerte ab, während sie unter quälenden Augenschmerzen und ständigen Kopfschmerzen litt. Das Sehvermögen begann sich erst zu bessern, nachdem sie sich 1979 bei ihrer Tante Dorothy in Bournemouth ausgeruht hatte. Schliesslich konnte sie sogar wieder lesen. Dieses Buch war das Neue Testament, das zum Symbol eines neuen Lebens wurde. Rosemary Tonks starb im Jahr 2014 in Bournemotuh, wo sie als Mrs. Lightband bekannt war. Weil sie ihre literarische Selbstauslöschung nicht erfolgreich betrieben hatte, kann The Bloater – zuerst publiziert bei The Bodley Head, London, 1968 – jetzt in den USA und Grossbritannien neu aufgelegt werden
Ach ja, auch das noch: Ohne Bischöfe, Äbte, Priester, Diakone und vor allem Mönche wären die Errungenschaften der europäischen Antike samt islamischem Wissen (Algebra, Zahlensystem) gar nie im humanistischen Europa angekommen geschweige denn effizient verbreitet worden.