Gesprochene literarische Werke haben die unumgängliche Eigenart, dass - sind die Texte erst einmal heruntergelesen - sich hinterher niemand mehr so recht an Einzelheiten erinnern vermag; Literatur indes lebt vom Detail. Dieser literarischen Gedächtnislücke nachzuhelfen ist dieser Tage eine schriftliche Dokumentation über die letztjährigen zweiten Solothurner Literaturtage erschienen.
Siebenmal vier Lesungen über drei Tage verteilt. Das war für den interessierten, aber nur zeitweise abkömmlichen Zuhörer ein bisschen wie russisches Roulette mit umgekehrten Vorzeichen: In jeder Kammer mochte ein guter Schuss stecken, und wenn er losging, war man nicht dabei. Anders also bei «Live»-Veranstaltungen, wo man schon das Risiko einer missratenen oder mässigen Kostprobe literarischen Schaffens auf sich nehmen muss, zeichnen sich schriftliche Dokumentationen durch den Vorzug einer repräsentativen Auswahl aus, oder sollten dies zumindest. Repräsentativ ist sie insofern, die jüngst erschienene Dokumentation über die zweiten Solothurner Literaturtage, als darin neben den Auszügen von Lesungen auch dem Offenen Block, dem Poesie-Telefon und dem abschliessenden Literaturgespräch der gebührende Platz eingeräumt wird.
Keine Berücksichtigung hingegen fanden die Werkstätten, zumal sich ein Überblick über die aktive Mitarbeit des Publikums nur schwerlich realisieren liesse. Dennoch wurde auf eine Art abrundendes Stimmungsbild nicht verzichtet: ein am Schluss des Sammelbandes beigefügter Pressespiegel trägt dazu bei, den Anlass vom vergangenen Mai in seiner ganzen Bandbreite etwas zu relativieren.
Keine Übersetzungen
Was die abgedruckten Texte von 15 Autoren betrifft, wird vom Leser schon eine gewisse Sprachmächtigkeit insbesondere in den vier Landessprachen abverlangt.
Weder Giovanni Bonalumis «Frammenti di romanzo», Giovanni Orellis «Berna», noch Daniel Odiers «Petit déjeuner sur un tapis rouge» oder Claude Tabarinis Lyrik sind ins Deutsche übersetzt. Gewiss, die Fülle literarischer Veranstaltungen dokumentarisch lückenlos zu belegen, ist allein aus jener Überlegung heraus aussichtslos, dass ein wesentlicher Mitbestandteil der letzten Solothurner Literaturtage - nämlich die Begegungen und Gespräche am Rande - schriftlich kaum reproduzierbar sind.
Dafür bleibt kein Raum mehr übrig, geschweige denn für Übersetzungen. Bei der Textauswahl im übrigen sind die Herausgeber so vorgegangen, dass vorab Beiträge von Autoren berücksichtigt wurden, die nicht ohnehin in der letzten Zeit als Verlagsneuerscheinungen angeboten wurden oder künftig noch als solche angeboten werden.
Eine Begegnungsstätte
Die Solothurner Literaturtage, die vom 16. bis 18. Mai des vergangenen Jahres in ihre zweite Auflage gingen, heben sich zweifellos in einem Punkt von herkömmlichen jurierten Literaturveranstaltungen ab: Sie wollen eine Begegnungsstätte für Autoren, Publikum, Medien und Verleger sein und nicht eine Arena für literarische Scharfrichter. Im Sinne dieser Popularisierungsbestrebungen wurde letztes Jahr erstmals auch ein Poesie-Telefon eingerichtet. Teils anklagend, teils bedauernd war denn auch das Wortspiel zu vernehmen: «Wenn die Poesie Poedu heissen würde, wäre sie mir nicht mehr so fremd.» Die Solothurner Literaturtage - die nächsten finden vom 29. bis 31. Mai 1981 statt - sind auf dem besten Weg dazu, ganz und gar im Einklang mit den gesteckten Zielsetzungen «Poedu» zu werden. Dazu trägt auch die jüngste Dokumentation Wesentliches mit bei.
Urs W. Scheidegger
Artikel in der Solothurner Zeitung vom 29. Januar 1981
(Neue Schweizer Literatur, Die Solothurner Literaturtage 1980 in Wort und Bild, herausgegeben vom Verein Solothurner Literaturtage, Verlag Nachtmaschine)