ZEIT - 13.7.3023 Epochal Wissenschaftler haben in dieser Woche ein neues Erdzeitalter ausgerufen: Das Anthropozän. In ihm ist der Mensch endgültig die den Planeten formende Kraft. Was folgt daraus? von Stefan Schmitt; Illustration: Kim-Melina Bertram Gute Antworten werfen neue Fragen auf. In diesem Sinne ist CRA23-BC-1F-A eine wirklich gute Antwort. Den nummernschildhaften Namen trägt eine Sedimentprobe vom Boden des Lake Crawford, eines kleinen und zugleich tiefen, baumumstandenen Sees in der kanadischen Provinz Ontario. Lake Crawford haben Sie noch nie gehört? Könnte künftig aber in den Schulbüchern stehen. Denn diesen See haben Wissenschaftler am Dienstag dieser Woche der Weltöffendichkeit präsentiert. Er beantwortet nach ihrer Ansicht die Fragen: Welchen Zeitpunkt markiert eine geologische Schicht als den Anfang einer neuen Epoche? Und welcher Ort auf Erden soll als Beispiel dafür dienen? Die Mitte des 20. Jahrhunderts ist der Zeitpunkt, der Lake Crawford ist der Ort. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Colin Waters und Jan Zalasiewicz von der Universität Leicester finden: Er soll als der globale Referenzpunkt gelten, das Lehrbuchbeispiel für den Beginn des Anthropozäns. Anthropozän, mit großem A, das ist eines der gewichtigsten Wörter unserer Gegenwart. Triumph und Tragik der technischen Zivilisation stecken darin, ein banger Blick in die Zukunft und ein unsicherer ins Gesicht der eigenen Artgenossen: Wie geht es weiter? Ein guter Begriff ist es zumindest in dem Sinne, dass auch er Fragen über Fragen aufwirft. Der Mensch (griechisch anthropos) benennt also ein Erdzeitalter nach sich, trennt seine Gegenwart ab von jenem Abschnitt der Erdge-schichte, der seit dem Ende der Eiszeit herrscht, dem Holozän. Dessen Name, gebildet aus griechisch hólos (ganz) und kainós (neu) heißt eigentlich schon das «ganz Neue». Aber neuer geht ja immer. Im Jahr 2000 hat der Ozonloch-Entdecker und Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen den Begriff des Anthropozäns provokant in die Welt gesetzt, »um die zentrale Rolle der Menschheit in Geologie und Ökologie zu betonen«. Eine Spezies, mit rund 270.000 Jahren noch recht jung im Club des irdischen Lebens, seit höchstens 10.000 Jahren sesshaft, erkennt sich selbst als die den Planeten umformende Kraft. Willkommen im Hybrizän, dem Zeitalter des Größenwahns? Nein, es genügt, sich wenige nüchterne Zahlen vor Augen zu führen: • Menschen bewegen heute mehr Sediment als alle Flüsse und Winde zusammen. Und der jährlich produzierte Kunststoff wiegt genauso viel wie alle Erdenbürger zusammen. • Rund ein Viertel dessen, was die Biosphäre hervorbringt, nutzen Menschen für sich, indem sie es ernten und fällen, verarbeiten und verheizen, schlachten und fischen. • Die eisfreie Landoberfläche der Erde wird zu zwei Fünfteln landwirtschaftlich genutzt, Holzproduktion nicht mitgezählt. • Weitere 15 Prozent davon sind mit Häusern, Straßen, Industrie- und Gewerbegebieten bedeckt, mit Holzplantagen, Tagebauen, Stauseen. Insgesamt ist mehr als die Hälfte der Landfläche umgeformt. • Über die vergangenen 50 Jahre haben Zoologen im Wasser und an Land dokumentiert, wie Populationen im Mittel um zwei Drittel schrumpften. Wegen enormer Verluste ganzer Arten sprechen Biologen vom »sechsten Massensterben« der Erdgeschichte. • Einige wenige Arten sind derweil grotesk zahlreich. Das Lebendgewicht aller Nutztiere ist mehr als 20-mal so groß wie das aller wilden Wirbeltiere. Das liegt an den riesigen Beständen von kaum zwei Dutzend Arten, vor allem an Rindern. Man muss die Liste der Beispiele nicht fortsetzen, obwohl das leichterdings ginge, um zum Eindruck zu gelangen: Paul Crutzen hatte recht. Vielfältig verwoben sind all diese Entwicklungen mit der Klimakrise. Die macht nicht nur die Gegenwart unwirtlicher. Sie setzt auch Prozesse in Gang, die über Jahrhunderte und Jahrtausende radikal das Gesicht der Erde verändern. Etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, die globalen Küstenlinien, die sich durch Gletscherschmelze und Meeresspiegelanstieg drastisch verändern werden. Kurze Menschenlebensspannen hier, geologische, Jahrtausende messende Tiefenzeit (deep time) da, diese Verschränkung ist man aus den Erkenntnissen der Klimaforschung noch am ehesten gewohnt. Der Kohlenstoff lange ausgestorbener Palmfarne und Saurier heizt als verbrennendes Öl und Gas die Gegenwart auf. Besonders für die Fachleute der Erdgeschichte ist aber eine saubere Trennung der Normalfall: Die Vergangenheit lesen sie aus aufgebrochenen Gesteinsschichtungen heraus. (Deswegen heißen die zuständigen Experten Stratigrafen, von lateinisch stratum, Schicht.) Fehlen etwa in den Gesteinen des Paläogen die aus der Kreidezeit bekannten Dinoknochen, so muss damals etwas Dramatisches passiert sein - das Forscher nun geruhsam rekonstruieren können. Entsprechend groß waren die Vorbehalte gegen Crutzens Wort und die Fragen, die es aufwarf: Sollen wir das erforschen? Und wenn ja, wie? Und wer? Als Antwort auf die dritte Frage wurde im Jahr 2009 die Anthropocene Working Group (AWG) gebildet, jene Arbeitsgruppe um Waters und Zalasiewicz, die in dieser Woche ihren großen Auftritt hatte. Man muss wissen, dass die Kalendereinträge der Erdgeschichte von Fachleuten kontrolliert werden, die einer strengen Hierarchie folgen. Auf der untersten von drei Ebenen wacht die Subkommission für quartäre Stratigrafie über die jüngste geologische Vergangenheit. Ihr wurde die neue Arbeitsgruppe angegliedert. Und bei der war alles anders. Sie musste über Erdgeschichte in Echtzeit befinden. Zuweilen über Projekte, in denen statt steinerner Bohrkerne weiche, kaum abgesetzte Sedimente beprobt wurden, während die Gegenwart von oben nachrieselte. So fragt man sich beim Gedanken an den kanadischen Lake Crawrord unweigerlich, ob das Waldbrandjahr 2023 dort einen schwarzen Aschestreifen im Sediment hinterlassen wird. Sie machen den See zum Favoriten der Arbeitsgruppe: feine Jahresschichten, unverwirbelt, sauber getrennt, wie die Jahresringe eines Baums. So können die Stratigrafen aus ihrer Probe CRA23-BC-1F-A die Umweltveränderungen der vergangenen Jahrzehnte herauslesen: etwa dass ab den 1950er-Jahren in den Jahresschichten Ulmenpollen fehlen, als Folge einer regionalen Baumkrankheit, der Dutch elm disease. Mehr Asche, Kohlen- und Stickstoff zeugen von Luftverschmutzung (Fabriken) und Überdüngung (Landwirtschaft), die nach dem Zweiten Weltkrieg rapide zunahmen. Synthetische Verbindungen aus der Industrie und Mineralien, die saurer Regen ausgewaschen hat, finden sich ebenso. »Diese Ablagerungen haben die große Beschleunigung in jährlicher Auflösung verzeichnet«, schrieb ein Team um Francine McCarthy von der kanadischen Brock University 2022 in der Fachzeitschrift The Anthropocene Review. Die »große Beschleunigung«, das ist der Begriff in den Umweltwissenschaften für den steilen Anstieg menschlicher Aktivität ab Mitte des 20. Jahrhunderts (siehe Interview auf Seite 28). Nirgendwo ist sie nach Meinung der Arbeitsgruppe so gut protokolliert wie am Boden des Lake Crawford. Auch Kerne aus den Buchten von Beppu und San Francisco, aus dem Riesengebirge, der chinesischen Provinz Jilin, aus Korallen, Tropfsteinen, von der Antarktischen Halbinsel und aus der Ostsee (ZEIT Nr. 31/22) waren im Rennen. Antworten gaben sie alle, wenngleich in unterschiedlicher Genauigkeit und Zusammensetzung. Deswegen soll auch ein geochemisches Signal für die Datierung dienen, das in der Menschheitsgeschichte (bis jetzt) singulär ist. Überall auf der Welt findet sich im Sediment der Fünfzigerjahre der sogenannte bomb Spike: strahlende Spuren überirdischer Kernwaffentests. Früh hatte die Arbeitsgruppe sich darauf geeinigt, Plutonium als Zeitstempel der Menschheit zu betrachten. Daher nun auch der Vorschlag des Jahres 1950. Laien mag das verstören. Aber auch Fachleute sind sich uneins. So haben die Geologen Simon Lewis und Mark Maslin in Nature »potenzielle Startdaten für eine formelle Anthropozän-Epoche« aufgelistet, die zurückreichen bis ans Ende der Steinzeit (Ursprung des Ackerbaus) und früher (Ausrottung der Megafauna). Paul Crutzen hatte das späte 18. Jahrhundert vorgeschlagen - wegen Dampfmaschine, Kohle und CO2. Woran man sieht: Der Beginn der Menschenzeit ist weder eindeutig noch selbsterklärend. Er ist Definitionssache. Nun soll es also Lake Crawford sein. Das ist der vorläufige Höhepunkt einer Suche, die noch nicht am Ende ist, deren Einzigartigkeit sich aber längst zeigt. Schon die kuriose Form der Doppelpräsentation am Dienstagabend dieser Woche: ein Slot vor Fachpublikum beim Jahrestreffen der Stra-tigrafen im nordfranzösischen Lille, danach die öffentliche Präsentation am Berliner Max- Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Während das A-Wort und mit ihm die Idee einer durch Menschen gemachten geologischen Epoche längst etabliert sind, muss die Geologenschaft noch abstimmen: Ist das Sediment aus Ontario wirklich der beste Beleg für seinen Anfang? Zuerst befindet darüber jetzt die Subkommission und hernach die Internationale Kommission für Stratigrafie. Dann könnte im Sommer 2024 beim Jahrestreffen in Südkorea schließlich die International Union of Geological Sciences (IUGS) abstimmen, quasi das Weltparlament der Erdkundler. Ausgang offen, denn nicht wenigen von ihnen ist das alles suspekt. Etwa dem Geologen Stanley Finney, immerhin amtierender IUGS-Generalsekretär. Der hinterfragt fachlich sowohl den Zeitpunkt als auch den Epochenbegriff des Anthropozäns selbst. Er wirft der AWG aber auch »Respektlosigkeit« vor, weil sie sich nicht ausreichend mit Kollegen beraten und stattdessen eine »globale Publicity-Kampagne« betrieben habe. Die Ironie daran ist, dass im Anthropozän-Prozess just über die Grenzen von Disziplinen, ja der Wissenschaft selbst hinaus gedacht wurde. Hier griffen Naturwissenschaften (in Gestalt der AWG), Geisteswissenschaften (am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte), Kunst und Kultur (am Berliner Haus der Kulturen der Welt und mit der ersten populären Ausstellung am Deutschen Museum in München) geradezu vorbildlich ineinander. Diese Anthropozän-Allianz hat einen wissenschaftlichen Prozess selbst zum Gegenstand von Forschung und Kunst gemacht, ihn gleichzeitig der Öffentlichkeit geöffnet: Erkenntnisfortschritt auf offener Bühne. Dazu gehört natürlich auch die Ideenkritik. Einerseits ist der Anthropos zweideutig: Meint er in Wahrheit statt Mensch eher Mann — haben doch vor allem Männer sich die Welt untertan gemacht? Sind hingegen alle gleichermaßen gemeint, verschleiert das nicht jede Verantwortung? So sprießen die Gegenvorschläge. Ein offensichtlicher Kandidat ist »Ka-pitalozän«, eingebracht vom schwedischen Humanökologen Andreas Malm, um das Zeitalter nach der treibenden Kraft der Zerstörung zu benennen. Andere Wortschöpfungen orientieren sich eher an einzelnen Symptomen wie »Urbano-zän« (Verstädterung) und »Plantationo-zän« (der Komplex aus Monokulturen, Kolonialismus und Sklaverei). Oder einfach »Pyrozän«, das Zeitalter des Feuers. Und im Wissen um die Klimakrise drängt sich ein Begriff geradezu auf: das »Karbozän«. Der polnische Kulturwissenschaftler Franciszek Chwalczyk von der Universität Posen hat sich den Spaß gemacht und für die Fachzeitschrift Sustainability alle möglichen Anthro-pozän-Alternativna-men versammelt. Der Titel seines Aufsatzes erinnert an Jules Verne: Around the Anthropocene in Eighty Names — in 80 Namen um das Anthropozän. Auch das klingt epochal. A wie Anthropozän Die Rückstände von vier Stoffen gelten als entscheidende Marker des neuen, vom Menschen geprägten Erdzeitalters: Mikroplastik, CO2, Stickstoff und Plutonium Der Philosoph Bernd Scherer hat daran mitgearbeitet, den Beginn des neuen Zeitalters zu bestimmen. Hier erklärt er, warum es nicht nur Erd-, sondern auch Kulturgeschichte ist - und wie Kunst uns noch retten kann DIE ZEIT: Herr Scherer, wenn Sie auf unsere Gegenwart schauen, wie geht es Ihnen? Bernd Scherer: Ich habe genug zu essen, eine Wohnung, ich treffe Freunde. Mir geht es gut. Aber die Fragilität der Welt, die verursacht mir Übelkeit. ZEIT: Was genau meinen Sie? Scherer: Die schmutzigen Seiten unseres Wohlergehens haben wir lange in andere Weltteile ausgelagert. Jetzt kommen sie zu uns zurück. Als Energiekrise. In Gestalt des Klimawandels. Es gibt kein Außen mehr, wohin wir die Nebenwirkungen unseres Handelns verlagern können. Willkommen im Anthropozän! ZEIT: Anthropozän - wofür steht der Begriff? Scherer: Wir haben das Holozän verlassen, das vor etwa 12.000 Jahren begann. Das Zeitalter war durch ein mildes, stabiles Klima gekennzeichnet, in dem die menschliche Zivilisation gedeihen konnte. Für die Epoche danach hat der Nobelpreisträger Paul Crutzen den Begriff Anthropozän vorgeschlagen, das Zeitalter des Menschen. Die Geologen in der International Commission of Stratigraphy haben daraufhin eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die Anthropocene Working Group. Sie sollte die dem Begriff zugrunde liegende These überprüfen. ZEIT: Wie lautet diese These? Scherer: Zunächst geht es um den Nachweis, dass sich das menschliche Handeln in den Erdschichten abbildet. Damit verbunden ist die Erkenntnis von Erdsystemwissenschaftlern, dass sich wesentliche Parameter des Erdsystems in einer exponentiellen Beschleunigung verändern und dass dabei der Planet aus der Balance gerät. CO2-Anstieg, Versauerung der Meere, Artensterben, Zahl der Mobiltelefone, Weltwirtschaft — alles! ZEIT: Wir sprechen also beim Anthropozän von einem ganz jungen Erdzeitalter? Scherer: Die massiven Veränderungen setzen Mitte des 20. Jahrhunderts ein, als mit der sogenannten Großen Beschleunigung Ressourcen- und Energieverbrauch exponentiell nach oben schossen. Das ist die menschliche Zeitachse. Der Planet hat eine andere: Die Energie für die Beschleunigung stammt aus fossilen Ressourcen - Erdöl, Erdgas, Kohle — und aus atomaren Quellen. Es hat Milliarden von Jahren gedauert, um in biochemischen Prozessen die fossilen Energien einzulagern, die wir Menschen jetzt verfeuern. Und die Lagerung radioaktiver Abfälle wird uns auf Abertausende von Jahren in der Zukunft beschäftigen. ZEIT: Das diskutieren wir schon lange. Was ist am Reden übers Anthropozän neu? Scherer: Dass wir die großen Zusammenhänge nicht mehr ignorieren können! Durch das Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren entsteht eine neue Qualität, die etwa der Begriff des Klimawandels allein nicht umfasst. Der war erst nur im Globalen Süden zu spüren. Jetzt bemerken wir ihn auch hier: Dürre, Fluten, extreme Hitze — und Menschen, die aus Afrika zu uns kommen, weil dort Ackerland verloren geht. Böden, Migration, Klima, das kommt hier alles zusammen. ZEIT: Wie kommen Sie bei dieser Gemengelage als Philosoph und Kulturwissenschaftler ins Spiel? Scherer: Im Begriff des Anthropozäns fließen Natur-und Kulturwissenschaft zusammen. Seit dem 19. Jahrhundert ist naturwissenschaftliches Wissen prägend für unser Verständnis von Realität. Nun kommen Naturwissenscnafder zu der Erkenntnis, dass ihr Gegenstand gar nicht die reine Natur ist. Erd- und Menschheitsgeschichte vermischen sich in einer Form, die eine neue Beschreibung und ein neues Wissen nötig macht. In enger Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte haben wir die Zusammenarbeit zwischen Aktivisten, Künstlerinnen und Wissenschaftlern eingeübt. Und wir haben als Kulturinstitution über zehn Jahre intensiv mit der Anthropocene Working Group zusammengearbeitet. Wir wollten ganz aus der Nähe die Arbeit jener Experten verfolgen, die das Anthropozän geologisch definieren. ZEIT: Wie genau arbeitet diese Gruppe? Scherer: Es gibt ein sehr strenges Protokoll, wenn man ein neues Erdzeitalter ausrufen will. Zunächst mussten global Belege für eine menschengemachte Sedimentschicht gefunden werden. Dafür wurden an zwölf Orten der Welt Bohrkerne genommen und auf unterschiedliche Marker hin untersucht. Plutonium etwa, das sich wegen der Atomwaffentests der Fünfzigerjahre überall findet. Plastik spielt eine große Rolle, Stickstoff und natürlich Kohlenstoff. Ein bestimmtes Muster dieser Marker muss sich überall auf der Erde wiederfinden. ZEIT: Jetzt ist aus vielen Kandidaten einer ausgewählt worden, der repräsentativ für das neue Zeitalter steht: ein Bohrkern aus den Sedimenten des Crawrord 1 .ake in Kanada. Was macht ihn zum UrOrt des Anthropozäns? Scherer: Der See ist ein einzigartiges Erdarchiv. An den Ringen des Bohrkerns lässt sich der Beginn des Anthropozäns auf das Jahr genau bestimmen. ZEIT: Hat die Menschheit nun ihr eigenes Erdzeitalter, ganz offiziell? Scherer: Noch nicht ganz. Vor der endgültigen Formalisierung des Anthropozäns müssen dem Vorschlag noch mehrere Gruppen zustimmen, die International Commission of Stratigraphy etwa, wo kontrovers über den Vorschlag gestritten wird. ZEIT: Unabhängig davon sind die Folgen der Entwicklung spürbar. Ihr Beginn wurde um das Jahr 1950 festgelegt. Ist das nicht etwas willkürlich? Scherer: In dieser Zeit beginnt die Phase der Großen Beschleunigung, die durch exponentielles Wachstum geprägt wird. Aber das Anthropozän fällt Mitte des vergangenen Jahrhunderts natürlich nicht vom Himmel. Es hat eine Vorgeschichte, in der sich Denkweisen und Handlungsmuster ausbilden. Grundlegend sind Technologien, durch die aus dem Denken neue und materielle Welten geschaffen werden konnten. Zum Beispiel die euklidische Geometrie. Die bezog sich nicht auf die Realität, sondern auf ideale Gegenstände. ZEIT: Es gibt in der realen Welt kein perfektes Dreieck, weil die Realität immer vom Ideal abweicht? Scherer: Ja. Menschen haben in der Antike Werkzeuge entwickelt, die wir an die Realität anlegen und mit denen wir zugleich Realität konstruieren können. Damit beginnt eine permanente Interaktion menschlichen Denkens mit natürlichen Prozessen. Ohne dieses Denken hätte es keine Landkarten gegeben! Denn Vermesser abstrahieren von den realen Bedingungen, um räumliche Entfernungen zu bestimmen. Man kann damit ganze Kontinente vermessen, ohne sich mit den konkreten sozialen und politischen Prozessen vor Ort zu beschäftigen. Die gesamte Kolonisierung der Erde durch europäische Gesellschaften lief ^enau nach diesem Muster ab, in Nord- und Südamerika, in Indien, in Afrika. ZEIT: Welche anderen Stationen sind auf dem Weg ins Anthropozän noch wichtig? Scherer: Die Erfindung der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert. Sie steht am Anfang der industriellen Revolution und des massenhaften Verbrauchs fossiler Energie. Oder die Entwicklung des Haber-Bosch-Verfahrens zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es ermöglichte die Herstellung von Stickstoffdünger, mit dem die Landwirtschaft industrialisiert wurde. Als Mary Shelley 1816 den Roman Frankenstein begann, hatte ein Vulkanausbruch in Indonesien in Europa ein Jahr ohne Sommer ausgelöst. Dies führte zu Engpässen in der Nahrungsmittelversorgung. In der Folge wurde stickstoffreicher Vbgelkot als Dünger entdeckt. Er musste aber von den Küsten Südamerikas importiert werden. Im Jahr 1910 ließ sich dann die BASF ein Verfahren patentieren, um künstlich Stickstoffdünger herzustellen, eine Sternstunde der Menschheit. »Brot aus Luft« hieß es damals, später erhielt Carl Bosch dafür den Nobelpreis. Derselbe chemische Prozess wurde allerdings auch benutzt, um Sprengstoff herzustellen. Ohne ihn wäre der Erste Weltkrieg wohl schneller vorbei gewesen. ZEIT: Fluch und Segen zugleich. Scherer: Ja, ohne künstlichen Stickstoff hätte es katastrophale Hungersnöte gegeben. Heute aber sind große Teile unserer Landschaft überdüngt, das ist mitschuldig am weltweiten Artensterben. ZEIT: Das konnte man damals nicht ahnen. Ist das ein typisches Muster im Anthropozän? Scherer: Die entscheidende Frage lautet: Wie gehe ich mit dem Wissen um, dass ich nie alles über einen Gegenstand weiß? Es beginnt schon damit, wie man sich als Mensch auf dieser Erde sieht. Bin ich ein Akteur, der einfach draufloslebt? Oder betrachte ich mich als Gast und bemühe mich, umsichtig zu handeln? Das ist in unseren Konsumgesellschaften nur schwer möglich. Wir haben uns an Extreme gewöhnt, die uns jetzt blockieren. Zum Beispiel an all die Autos, die täglich 23 Stunden lang in der Stadt stehen, um eine Stunde gefahren zu werden. ZEIT: Was steckt hinter dieser Gewöhnung? Scherer: Wir wollen Macht haben über natürliche Prozesse. Wer friert, versucht mit Energie Abhilfe zu schaffen. Probleme entstehen aber immer dann, wenn Prozesse, die im lokalen Kontext funktionieren, auf planetarer Ebene überall eingesetzt werden. ZEIT: Beim Schutz der Ozeane oder des Klimas gibt es doch keine Alternative zum globalen Handeln. Scherer: Ich sehe das eher als gefährliches' Symptom, dass wir uns durch Großtechnologien und Infrastrukturen die Welt so gebaut haben, dass wir permanent globale Lösungen brauchen. Jeder Infarkt, der irgendwo entsteht, hat fast immer weltweite Konsequenzen. ZEIT: Die Menschheit ist nun einmal so stark vernetzt, ob man das jetzt gut findet oder nicht. Scherer: Die Vernetzung soll ja beibehalten werden! Sie kann sogar ökonomische, politische und soziale Prozesse in kleineren Einheiten befördern. Wir sind in manchen Bereichen längst auf einem Weg dahin, nehmen Sie die Energieversorgung in Europa. Die wird durch Wind und Solar lokaler und unabhängiger. Es geht mir nicht darum, in die Vormoderne zurückzugehen. Sondern vor allem darum, für einen anderen Wissensbegriff zu sensibilisieren. ZEIT: Anders inwiefern? Scherer: Erstens: Wir brauchen eine Demokratisierung des Wissens. Wer betroffen ist von der Anwendung des Wissens, sollte mitreden können. Zweitens: Wir müssen die Fragmentierung von Wissen überwinden. Nehmen Sie die Pandemie: Da haben Ökonomen und Politologinnen, Epidemiologinnen und Virologen geforscht. Aber sie haben sich nicht richtig verständigen können, jede Disziplin hat eine eigene Sprache. Ich glaube, künsderische Prozesse spielen eine zentrale Rolle, um Fragmentierung zu überwinden. Künstler sind nicht dazu gezwungen, unter disziplinären Grenzziehungen auf eine Realität zu schauen. Ihre Zugangsweisen sind zwar subjektiv, dafür aber ganzheitlich. ZEIT: Im Klima- und Naturschutz wird gerade viel über indigenes Wissen gesprochen ... Scherer: ... das lange bekämpft und als irrelevant ausgeschlossen wurde! Wenn wir sagen: Es braucht mehr Wissen, anderes Wissen, drückt das ein Defizit der wesdichen Moderne aus. Unsere Weitsicht ist nicht nur die Folge der Anhäufung von Wissen, sondern auch die des Ausschlusses von Wissen. ZEIT: Damit sind wir bei der Gewalt, mit der ab Mitte des vergangenen Jahrtausends die Europäer allen anderen ihre Weitsicht überstülpten. Scherer: Es stimmt: Man kann unsere Zeit und ihre Probleme kaum verstehen, wenn man nicht mitdenkt, dass der Wohlstand hier in Europa und den USA zu einem großen Teil auf der Ausbeutung anderer Länder beruht. Das Anthropozän ist auch eine Geschichte der Unterdrückung von Natur und Mensch. Ich habe immer noch die Bilder einer Reise entlang des Mississippi vor Augen. Am Unterlauf des Flusses stehen heute petrochemische Anlagen auf dem Land früherer Plantagen. Die Nachfahren der Sklaven von damals atmen heute die RaffinerieAbgase. Die Ausbeutung mag andere Formen annehmen, aber in ihrem Kern ändert sie sich nicht. ZEIT: Sie haben den Prozess der Formalisierung des Anthropozäns mehr als ein Jahrzehnt begleitet, Ausstellungen organisiert, Treffen auf verschiedenen Kontinenten veranstaltet. Aber mal ehrlich: Ist die Erkenntnis, dass der Mensch zur dominierenden Kraft geworden ist, nicht vollkommen'banal? Scherer: Überhaupt nicht! Denn mit dieser Erkenntnis kommt eine Verantwortung auf uns zu, die es in dieser Radikalität zuvor nie gegeben hat. Das Gespräch führten Fritz Habekuß und Maximilian Probst Bernd Scherer, Philosoph und Kulturwissenschaftler, leitete bis Dezember 2022 das Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Ab September arbeitet er am Max-Planck-Institut für Geoanthropologie in Jena