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Resonanzräume oder die zerstörerische 42 der Solothurner Literaturtage

Verfasst von Urs Scheidegger | |   Kultur

Nicht nur der diesjährige Ü-40-Jahrgang hat es in sich, auch der «Resonanzraum», um den die 42. Solothurner Literaturtage erweitert werden, wirft Fragen auf.

Es erhebt sich die Frage und steht im Raum: Wo kommt der Resonanzraum her, der – neben dem Coronavirus – im Vorfeld der 42. Solothurner Literaturtage dermassen viral geht? Gibt es trifftige Gründe? Okay, das Phänomen der Resonanz spielt auf mancherlei anderen Gebieten eine wichtige Rolle, in der Mechanik, Akustik, Baudynamik, Elektrizitätslehre, Optik – selbst auf meiner Lieblingsspielwiese, der Quantenphysik. Aber Resonanzraum in der Literatur? Nun gut. Vor bald zehn Jahren hat eine deutschsprachige Zeitung mit paneuropäischem Anspruch gefragt, ob es so etwas wie eine genuin europäische Literatur, einen gemeinsamen europäischen Resonanzraum, gäbe. Immerhin konnte seitdem der «Resonanzraum» laut DWDS sein Vorkommen bis heute auf 0,4 Millionen Einheiten verdoppeln. Ob auch die 42. Solothurner Literaturtage ihr Scherflein dazu beitragen können? Zumal am Aarestrand des Jurasüdfusses im Zusammenhang mit den Literaturtagen eine Resonanz im Raum steht, die diversen Texten in verschiedenen künstlerischen Disziplinen nachspüren will. Schon möglich, und zwar wie fogt: Am Anfang war für einmal nicht das Wort, sondern steht ein Text, der im Vorfeld der 42. Literaturtage vom Publikum gewählt wird. Im «Resonanzraum» dann sollen dessen Grenzen ausgelotet werden, der Text «wird in Schwingung und in Bezug gesetzt, verdichtet, aktiv bespielt, weiterentwickelt und gemeinsam fortgeschrieben». Auf diese Art könne der «Resonanzraum» neue Zugänge eröffnen und böte «Raum für eine vielgestaltige Auseinandersetzung mit Literatur». Derselbe Text ist übrigens auch Ausgangspunkt für Werke von Illustrator*innen des Bolo Klubs, die in der Ausstellung im Künstlerhaus S11 zu sehen sein werden, wie weiter auf der Website nachzulesen ist, auf der auch Autor*innen und Übersetzer*innen sowie die OpenNet Gewinner*innen 2020 gelistet sind.

Interessenten können bis 20. März abstimmen, welcher Text im Resonanzraum thematisiert werden soll, und zwei Tageskarten für die 42. Solothurner Literaturtage gewinnen. Konkret handelt es sich bei den Texten um

Gomringers Zähne eines Haifischs fühlen sich etwas stumpf, verbissen an, sind quasi moritätisch durch Brecht/Weill vorbelastet. Gahses «Schon bald» ermüdet bald schon mal – auch ohne Resonanzraum. Blieben die doppelten Keller: zum einen der mit «Keller» betitelte Text von Lukas Bärfuss, zum andern Bichsels gut abgehangenes Werk «Die drei Niederlagen des Denkers», bei denen der traurig dreinblickende Gottfried Keller vor Jahrzehnten schon an der Wand einer Glattfeldener Beiz hing. (Nun neu aufgelegt in: Auch der Esel hat eine Seele: Frühe Texte und Kolumnen 1963-1971) Bichsel ist bis heute bei seinen Leisten geblieben, will heissen am Stammtisch, und setzt auf das, was Platon vor zweieinhalbtausend Jahren mit Sokrates und Co. praktiziert hat: Er sucht sich einpräsame Protagonisten aus und lässt sie in Dialogform über Gott und die Welt sinnieren.
Dagegen ist Bärfuss' «Keller» nicht nur relativ jung, sehr tief und lang, eine Wohltat sind auch seine Satzkonstruktionen, die in Zeiten der Einzelwortstakkati weit über das in den vergangenen Jahren propagierte Dreiwort-Satz-Schema SPO (Subjekt-Prädikat-Objekt) hinausreichen. Hannah Arendt, Kafka, Kleist, Thomas Mann, Annette von Droste-Hülshoff und Jonas Lüscher hätten ihre Freude.

Solothurner Literaturtage und die 42

Nun also die 42. Solothurner Literaturtage. Ausgerechnet 42. Die Zahl kann man sich hinter die Ohren schreiben, gilt sie doch auch als die nicht ganz ernst gemeinte Antwort auf die Frage aller Fragen des Menschen nach dem Sinn des Lebens und des Seins. Dies, seit Douglas Adams in seinem Roman «Per Anhalter durch die Galaxis» einen Computer namens Deep Thought speziell dafür bauen liess, um die Antwort auf die Frage aller Fragen, nämlich die «nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest» zu errechnen. 7,5 Millionen Jahre Rechenzeit benönigt Deep Thought für das Resultat und verkündet dann, es sei die «Zweiundvierzig». Mit Sicherheit korrekt, aber unbefriedigend. Weil die Frage nie korrekt formuliert wurde. «I think the problem, to be quite honest with you, is that you've never actually known what the question is.» Also her mit einem noch grösseren Rechner, dem Planeten Erde. Die indes kann die gestellte Aufgabe nicht vollenden. Weil sich – typisch Adamscher Humor – herausstellt, dass Mutter Erde einer geplanten Hyperraum-Umgehungsstrasse im Weg ist und deshalb fünf Minuten vor Ablauf des Programms von einer kosmischen Bauflotte gesprengt wird.

Licht und Schatten

Apropos 42: Das ist auch der dezimale ASCII-Code des Sternchens, das in vielen Skriptsprachen als universeller Platzhalter dient. Und leider geht die 42 auch als Zerstörerin der deutschen Sprache viral – als Gender-Sternchen, das nicht erst seit der 42. Ausgabe auf einer Plattform wie den Solothurner Literaturtagen ihr Unwesen treibt…
Wo Schattenseiten sind, gibts auch Licht. Womöglich findet Literatur dank Corona zum Königsweg ihrer Disziplin zurück, von der sich der Name herleitet: littera. Besser noch litterae, zumal der Plural bereits in der Antike fürs «Geschriebenes», «Dokumente», «Briefe», «Gelehrsamkeit», «Wissenschaft(en)» stand und sowohl im Französischen als auch im Englischen als «lettres bzw. «letters» synonym für «Wissenschaften» fortgeschrieben wurde. Der schöne Begriff Belletristik fand übers Französische ins Deutsche. Im Zeitalter digitaler wie posthumaner Beliebigkeit (auch was die Rechtschreibung betrifft), müsste man wohl heute so etwas wie die Begriffskombination «digitale Schriftlichkeit» bemühen.

Ankündigung der Solothurner Literaturtage im Mai 2013. (Foto: Urs Scheidegger)
Ankündigung der Solothurner Literaturtage im Mai 2013. (Foto: Urs Scheidegger)
Die Häufigkeit des Begriffs «Resonanzraum» konnte sich markant steigern.
Die Häufigkeit des Begriffs «Resonanzraum» konnte sich markant steigern.

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